Voller Energie und erwartungsvoll schaut Felicitas („Fee“) Steiner in unsere Gesichter. Die mittlerweile fast 97-jährige Dresdnerin (Jahrgang 1924) erzählte unserem Geschichtskurs am 9.7.2021 aus ihrem bewegten Leben.
Nach der Begrüßung und Vorstellung durch den Kursleiter Herrn Söllner begann Frau Steiner ohne Umschweife, über ihre frühen Kindheitserinnerungen zu erzählen. In einem guten bis wohlhabenden Familienumfeld sei sie aufgewachsen. Ihr Vater war Verlagsinhaber in Dresden, so dass sie schon früh mit Büchern in Kontakt kam. Im Alter von 8 Jahren ereilte sie der erste Schicksalsschlag: der Tod ihres geliebten Vaters. Ihr drei Jahre älterer Bruder übernahm nach dem Tod des Vaters dessen Rolle in der Familie. Ihre Mutter wahrte das Andenken des Vaters aber stets, so dass er geistig präsent blieb.
Anders als für die damalige Zeit üblich genoss Felicitas Steiner auf Wunsch ihres Vaters eine humanistische Ausbildung auf dem bischöflichen St. Benno-Gymnasium in der Wiener Straße in Dresden. Schon früh in ihrem Vortrag bezog Frau Steiner jüdische Klassenkameraden und Freunde in ihre Geschichte mit ein. Zu dem damaligen Zeitpunkt hatte sie schon Andeutungen über die Vorgehensweisen des neu an die Macht gekommenen Nazi-Regimes mitbekommen, jedoch war es laut ihr gar undenkbar, dass die politischen Versprechen in die Realität umgesetzt werden würden. „Man musste aufpassen, mit wem man über dieses Thema redete“, sagte Frau Steiner.
Nach der Reichspogromnacht im Jahr 1938 änderte sich das Verhalten gegenüber den Juden radikal. Jüdische Mitschülerinnen und Mitschüler wurden von ihrer Schule verwiesen und später zum Tragen eines Judensterns in der Öffentlichkeit verpflichtet. Viele ihr bekannte Familien flohen während dieser Zeit ins Ausland. Viele Jahre später hatte Frau Steiner wieder Kontakt aufnehmen können, so u.a. mit einer jüdischen Schulfreundin, die nach Schweden emigrierte. Die Familien, die in Deutschland blieben, waren dem Untergang geweiht. Kontaktverbote zu Juden wurden verhängt und jüdische Familienmitglieder wurden aus ihren Familien ausgeschlossen: „Deutsche Frauen haben sich von Juden zu trennen.“ Konfrontiert mit dieser Realität sagte Frau Steiner, dass man sich vor sich selbst geekelt habe, weil man als junger Mensch nichts unternommen hatte, die politische Führung aufzuhalten: „Man hatte keinen Mut etwas dagegen zu unternehmen.“
Da ihr Gymnasium nach Kriegsbeginn zu einem Lazarett umfunktioniert wurde, musste sie mit drei weiteren Schulkameradinnen auf das königliche Staatsgymnasium wechseln, welches eine reine Jungenschule gewesen ist. Sie selbst beschreibt diese Zeit, die von Zusammenhalt und Kameradschaftlichkeit gekennzeichnet war, als eine wunderbare.
In der Oberstufe meldeten sich jedoch immer mehr junge Männer aus ihrer Klasse freiwillig zum Kriegseinsatz. Mit Hilfe von Offizieren und hoch dekorierten Wehrmachtssoldaten, die als Kriegshelden galten, rekrutierte das Nazi-Regime viele Schüler. Rund drei Viertel der Schüler ihres Abiturjahrgangs und ebenfalls einige Lehrer meldeten sich freiwillig zur Front oder wurden eingezogen. Die meisten sah Felicitas Steiner nicht wieder. Viele kehrten nie wieder heim. Auch ihr damaliger Verlobter meldete sich freiwillig. Er war begeistert von den militärischen Erfolgen des U-Boot-Kapitäns Günther Prien, welche in der NS-Propaganda hochstilisiert wurden. Ihr Verlobter kam zur Marine und wurde 1. Wachoffizier auf einem deutschen U-Boot U-927. Am 24.2.1945 wurde es im Ärmelkanal von einem britischen Flugzeug mit Wasserbomben versenkt. Alle 47 Männer starben. Felicitas Steiner zeigte dem Kurs Fotos und den letzten Brief ihres Verlobten, der sie im Januar 1945 erreichte und den sie all die Jahrzehnte aufbewahrt hatte. Sein Schicksal und das der anderen jungen Männer an Bord, die kurz vor dem Kriegsende noch ihr Leben lassen mussten, erschüttert sie bis heute.
1943 absolvierte Frau Steiner ihr Abitur in einem dezimierten Jahrgang. Danach begann sie ein Studium. Da ihr nach kurzer Zeit das Tragen einer Kette mit einem Kruzifix als Regimekritik ausgelegt wurde, sollte sie fortan auf dieses Kreuz an der Universität verzichten. Die Grundlage ihres Glaubens wollte sie jedoch nicht verleugnen und exmatrikulierte sich. Ihre Mutter bestätigte sie in ihrer Haltung. Infolgedessen wurde sie, wie damals üblich, zum einjährigen Reichsarbeitsdienst eingezogen. Die Aufgaben bezogen sich auf Lagerarbeit, Erntearbeit auf einem Bauernhof, Kinderbetreuung und Küchendienst. „Es war harte Arbeit, ja. Aber man hatte das Gefühl etwas Sinnvolles zu tun“, so ihre Worte über diese Zeit. An ihrem freien Nachmittag, den sie einmal in der Woche hatte, half sie in einer Apotheke aus. Dort bildete sich dann ihr Berufswunsch der Apothekerin aus. Nach Beendigung des Reichsarbeitsdienstes fing sie eine zweijährige praktische Ausbildung zur Apothekerin an. Ihre Ausbildung war, wenn man sie auf heute bezieht, das Äquivalent zu einem Dualen Studium. Dieses bestand nicht nur aus theoretischem Lernen, sondern auch aus praktischer Anwendung in der Realität. Sie betonte, wie sehr auf den Kontakt mit „echten Menschen“ hier schon Wert gelegt wurde.
Zwei Grundsätze, die sich in dieser Zeit für ihr Leben gefestigt hatten, waren: „Man muss die Menschen so achten, wie sie sind, egal wie“ und „Eine Zeit ist nie verloren, ganz egal, was man daraus macht.“
Jedoch brach dann ein düsteres Kapitel gegen Ende ihres zweiten Ausbildungslehrjahres an. Dresden schreibt den 13. Februar 1945. Beginn der Luftangriffe auf die Stadt. Bei Einbruch der Nacht flog die Britische Royal Air Force (RAF) mit Fliegerstaffeln über Dresden und warf rund 440.000 Stabbrandbomben. Weitere Wellen der Royal Air Force und der US Army Air Forces (USAAF) folgten. Die Stadt versank im Feuersturm. Insgesamt wurden 75% der Innenstadt zerstört, rund 25.000 Menschen kamen ums Leben und knapp 360.000 Menschen verloren ihr Zuhause.
Felicitas Steiner selbst floh gerade rechtzeitig mit ihrer Mutter und anderen Frauen und Kindern in einen Luftschutzkeller am Stadtrand. Nach ständigem Bangen um ihr Leben und der Verschüttung im Keller konnten sie sich nach drei Tagen den Weg an die Oberfläche freischaufeln. „Menschen rannten auf den Straßen wie Fackeln, die Stadt war wie totgefegt“, so die Schilderungen von Frau Steiner nach ihrem Aufstieg an die Oberfläche. Die heiße Luft, die auf der Straße stand, und das Nichtbegreifen, noch am Leben zu sein, warfen die Überlebenden aus der Bahn. Sie standen unter Schock nach diesem traumatischen Ereignis. Sie und andere Geflüchtete konnten zunächst bei einem Bekannten außerhalb der Stadt Unterschlupf finden. Sie schafften es später, auf einen Bauernhof auf dem Land zu flüchten, wo ihr ihre erlernten Fähigkeiten aus dem Arbeitsdienst nutzten. In der örtlichen Dorfapotheke konnte sie wieder Anschluss an ein normales Leben finden und ein gewohntes Arbeitsumfeld haben. Jedoch wurde diese bald darauf beim Einmarsch der Amerikaner beschossen und zerstört. Durch die Mithilfe beim Wiederaufbau der Apotheke konnte ihr ein fester Arbeitsplatz danach gewährleistet werden.
Ihren weiteren Werdegang konnte Frau Steiner nur kurz umreißen, da der Gong den Unterrichtsschluss bereits einläutete. Sie beendete ihre Ausbildung als Apothekerin, zog aus der DDR weg und lebt seit 1955 in Erlangen.
Felicitas Steiner hat in ihrem gesamten Leben schon vieles er- und überlebt. Große Bedeutung in ihrem Leben haben Ehrlichkeit, Zusammenhalt, gegenseitiger Respekt und Zuversicht.
Momentan lebt Frau Steiner im regen Austausch mit ihren Nachbarn, u.a. einer Studenten-WG, hier in Erlangen. Auch zu ihrer Familie hatte sie stets ein gutes Verhältnis. Sie selbst hat mehrere Kinder bekommen, sie hat Enkelkinder und sogar Urenkel in ihrer Familie, welche sie natürlich auf dem neuesten Stand der Technik halten. Auch beim Thema der Digitalisierung diskutierte sie mit viel Hintergrundwissen mit, obwohl sie sich mehr über persönliche Briefe freut als über oberflächliche E-Mails: „Es ist doch schöner, etwas in der in der Hand zu halten, an das man sich auch in 20 Jahren noch erinnern kann, oder wie seht ihr das?“
Nach 90 Minuten endete leider der Vortrag einer Zeitzeugin. Einer Dame, deren Lebensgeschichte sich weit über eineinhalb Stunden unseres geschichtlichen Rahmens in der Schule bewegt. Viele Themen und Lebensabschnitte mussten zeitlich bedingt ausgelassen oder übersprungen werden. Man kann von Glück und voller Stolz behaupten, eine Zeitzeugin wie Frau Steiner getroffen zu haben. Sie hat schlimme Kapitel der deutschen Geschichte erlebt, aber verlor nie den Mut und die Zuversicht.
Frau Steiner bot zudem an, dass sie für weitere Fragen zur Verfügung stehe und man sich gerne an sie wenden könne, wenn sich der eine oder andere für mehr Themen aus ihrem Leben interessiere. Man könne sie persönlich besuchen oder ihr – ganz klassisch – einen Brief schreiben.
Bis bald, Frau Steiner!
Johannes Heyer, Q11 für den Kurs 1g2